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Über die Geduld

 

Man muss den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen -
und dann Gebären...

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit ...

Man muss Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein.

     Rainer Maria Rilke

Will dir den Frühling zeigen

Will dir den Frühling zeigen,
der hundert Wunder hat.
Der Frühling ist waldeigen
und kommt nicht in die Stadt. 

Nur die weit aus den kalten
Gassen zu zweien gehn
und sich bei den Händen halten -
dürfen ihn einmal sehn.


     Rainer Maria Rilke

Zeit

braucht sie, die Wunde;

Zeit und Zärtlichkeit,

um zu heilen.

 

Das verdorrte Gras braucht Zeit und die behutsame Hand des Gärtners.

 

Auch die Bäume werden erst im Frühling wieder grün.

 

Doch dann - erst zögernd zwar -  schmilzt der Schnee unaufhaltsam.

                                                                            Hilde Domin

Worte
 

Worte sind reife Granatäpfel,
sie fallen zur Erde
und öffnen sich.
Es wird alles Innre nach außen gekehrt,
die Frucht stellt ihr Geheimnis bloß
und zeigt ihren Samen,
ein neues Geheimnis.

     Hilde Domin

Ein leises Lächeln steigt aus meinen Knöcheln empor,

lacht in meinen Knien,

kriecht höher an meiner Baumrinde entlang

und erfüllt mich mit berstenden Knospen

durchsichtiger Freude.

     Gioconda Belli

Das Porträt eines Vogels

Das Porträt eines Vogels

Male zuerst einen Käfig mit offener Tür.

Dann male etwas, was hübsch ist,

und einfach

schön und nützlich,

für den Vogel.

Male dann einen Baum

In einem Garten,

in einem Gehölz,

in einem Wald.

Verbirg dich hinter dem Baum,

sprich nicht

und halte still…

Manchmal kommt der Vogel geschwind,

doch mag es auch Jahre dauern,

bis das geschieht.

Laß den Mut nicht sinken

Und warte.

Viele Jahr, wenn der Vogel so will.

Ob er geschwind kommt oder zögernd,

der Wert des Bildes wird davon nicht berührt.

Kommt er dann,

falls er kommt,

übe tiefes Schweigen,

bis er im Käfig ist.

Verschließe die Tür mit einem sanften Pinselstrich.

Dann

Lösche alle Gitterstäbe aus,

einen nach dem anderen

und hüte dich, die Federn des Vogels zu berühren.

Male dann das Bild eines Baumes

Und wähle den schönsten seiner Zweige

Für den Vogel,

warte auf sein Singen.

Singt er nicht,

ist es ein schlechtes Omen,

und ein schlechtes Bild.

Singt er,

ist es ein gutes Omen,

du kannst ein gutes Bild mit deinem Namen zeichnen.

Mit sanften Händen reiß‘ dem Vogel eine Feder

Aus dem Gefieder,

und schreibe deinen Namen

an den Rand.

     Jaques Prevert

Bitte

Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen

wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft

diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten

der Wunsch verschont zu bleiben

taugt nicht

Es taugt die Bitte
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
Daß die Frucht so bunt wie die Blume sei

daß noch die Blätter der Rose am Boden

eine leuchtende Krone bilden

Und daß wir aus der Flut
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen

immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

      Hilde Domin

...Und hat ein Kind geboren

 

 Ich sah eine Frau,

die war rein wie eine Wiese voller Tau am frühen Morgen,

denn sie hat alles hinter sich gelassen,

um ein neues, ganz neues Leben zu beginnen.

 

Ich sah eine Frau,

die war schön wie der Kelch einer duftenden Blume,

denn ihre Sternenaugen

ruhten mit einem Blick unendlichen Glücks.

 

Ich sah eine Frau,

die war zart wie der Flaum eines jungen Vogels,

denn ihr kraftvoller Körper

ist plötzlich ganz innig und sanft.

 

 Sie hat den Berg bestiegen;

war verzagt, verzweifelt und stumm;

war gestorben, um nun wirklich zu leben;

war groß und stark, war arm und schwach;

war schreiend laut und unendlich still;

war bebend, ringend und fliehend;

war entschlossen – und verzagt; 

  

war ein reißender Strom – und ein treibendes Blatt;

war Königin – war Magd;

sah das Leben und den Tod;

sah die Sterne…

 

… und hat ein Kind geboren.

     Sven Hildebrandt

Geburt

Es ist wie in Liebe:

Öffne dich und lass es 

geschehen.

Lass das Kind zur Welt kommen.

Es genügt schon,

dass Du ihm nichts

entgegensetzt,

dass Du dich nicht

fürchtest,

dich nicht verwirren lässt

von der Kraft,

der ungeheuren Gewalt,

mit der das Kind geboren

werden will.

Es ist Dein höchstes Opfer,

Dein vollkommener Verzicht.

Etwas in Dir muss dem Kind

sagen können:

„Ja, verlass mich, geh aus

mir heraus. Da ist das

Leben. Vor Dir. Nimm es.“

     Frédérick Leboyer

Wo holt sich die Erde die himmlischen Kleider?

Beim Wettermacher, beim Wolkenschneider.

Sie braucht keine edlen Samte und Seiden,

sie nimmt, was er hat, und trägt froh und bescheiden

das Regenschwere, das Flockenleichte,

das Schattenscheckige, Sonngebleichte,

das Mondgewobne und Sternbestickte,

das Windzerissene, Laubgeflickte,

das Gockelrote, das Igelgraue,

das Ährengelbe, das Pflaumenblaue,

das Gräserkühle, das Nesselheiße,

das Hasenbraune, das Schwanenweiße -

und schlendert die Jahre hinauf und hinunter:

je schlichter, je lieber, je schöner, je bunter.

     Christine Busta

Alles ist im Keim enthalten

Alles ist im Keim enthalten,

Alles Wachstum ein Entfalten,

Leises Auseinanderrücken,

Daß sich einzeln könne schmücken,

Was zusammen war geschoben;

Wie am Stengel stets nach oben

Blüth' um Blüthe rücketweiter,

Sieh' es an, und lern' so heiter

Zu entwickeln, zu entfalten,

Was im Herzen ist enthalten.

     Friedrich Rückert

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